Das Atelier ist
zwischen
den Menschen. Joseph Beuys

70 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz. Gedanken von Roland Wolf

Gedanken zur Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch die Rote Armee am 27. Januar 1945, 70. Jahrestag. Von Roland Wolf

Auschwitz

Von Theodor W. Adorno sind die folgenden Worte: „Ich glaube, dass jeder Gedanke, der an diesen Erfahrungen nicht sich misst, völlig ohnmächtig, völlig gleichgültig, bloßer Spaß ist; und dass ein Mensch, der nicht, ja ich möchte fast sagen in jedem Augenblick das Potential des äußersten Entsetzen heute gegenwärtig hat, dass der überhaupt von vornherein unter einem solchen ideologischen Schleier denkt, dass was er denkt, genauso gut unterbleiben könnte.“
– Äußerstes Entsetzen im Denken an Verbrechen zu denen Menschen fähig waren und bis in die Gegenwart sind. Im Zusammenhang mit Auschwitz wird auch von einem Zivilisationsbruch gesprochen. Ich denke nicht, dass dieser Zivilisationsbruch stattgefunden hat, weil es diese „Zivilisation“ nie gegeben hat, sondern eine Illusion war, die durch Auschwitz endgültig entlarvt wurde.

Der Mensch herrscht zum Unheil über den Mensch, so heißt es schon im Alten Testament. Den Opfern von Auschwitz lässt sich mit frommen Worten, gezeigter Betroffenheit und noch mehr Kranzniederlegungen nur schlecht gedenken. Die immer wieder aufs Neue bekundete Abscheu gegenüber den Tätern rückt uns von diesen auch nicht weiter ab. Ob wir es wollen oder nicht, Opfer und Täter sitzen im gleichen Boot oder noch tiefer gefasst, sie sind in uns selbst. „Wehret den Anfängen“ bedeutet letztlich die Frage nach dem Anfang in uns und der Frage nach der Veränderung der Natur des Menschen und der Umgestaltung unserer kranken Gesellschaft. Das Boot, in dem wir sitzen, scheint getrieben von dem Motor, „immer weiter so?“ Immer weiter so, wie nach dem ersten Weltkrieg, immer weiter so, wie nach 1945 und den Verbrechen gegen die Menschheit in Auschwitz und der schier endlosen Kette weiterer Verbrechensstationen über Hiroshima, Vietnamkrieg, Kambodscha bis hin zu den Kriegsverbrechen unserer Gegenwart. Gedenken als eine rituelle Opferbeklagung erscheint mir als reaktionäre Veranstaltung ohne Kraft zur Umgestaltung einer Gesellschaft, die der Soziologe Eugen Rosenstock-Huessy einmal so bezeichnete: „Kommunismus und Kapitalismus sind ein Verbrechen am keimenden Leben.“ Der Soziologe Leo Löwenthal schreibt in dem Text, erschienen 1988, „Individuum und Terror“: „Es gibt eine weit verbreitete Ansicht, der zu Folge faschistischer Terror eine vorübergehende geschichtliche Phase sei, die glücklicherweise nun hinter uns liege. Ich kann mich dieser Ansicht nicht anschließen, sehe den Terror vielmehr als tief in der Dynamik moderner Zivilisation und besonders moderner Wirtschaftsorganisation verwurzelt.“ Dass in der Gestaltung der Wirtschaft diese Wurzel diagnostiziert wird, verdient besondere Aufmerksamkeit und der Künstler Joseph Beuys bringt es zum Ausdruck mit den Worten: „Das System nährt den Terrorismus an seinem Busen.“ Die ungeheure Problematik wird deutlich auch in der Aussage von Wilhelm Reich, der 1970 in „Massenpsychologie des Faschismus“ darlegt: „Der Faschismus wird auch heute noch, infolge des politischen Fehldenkens, als eine spezifische Nationaleigenschaft der Deutschen oder Japaner aufgefasst. Aus der ersten Fehlauffassung folgen alle weiteren Fehldeutungen. Der Faschismus wurde und wird noch immer zum Schaden der echten Freiheitsbestrebungen als Diktatur einer kleinen reaktionären Clique aufgefasst. Die Hartnäckigkeit dieses Irrtums ist der Angst vor dem Erkennen der wirklichen Sachlage zuzuschreiben. Der Faschismus ist eine internationale Erscheinung, die sämtliche Körperschaften der menschlichen Gesellschaft durchsetzt. Dieser Schluss steht in Übereinstimmung mit den internationalen Vorgängen der letzten 15 Jahre. Meine charakteranalytischen Erfahrungen überzeugten mich dagegen, dass es heute keinen einzigen lebenden Menschen gibt, der nicht in seiner Struktur die Elemente des faschistischen Fühlens und Denkens trüge. Wilhelm Reich kommt zu dem Ergebnis: „Das Hohe im Menschen, dasjenige, das ihn mit seinem Kosmos verbindet, ist nur in den großen Künsten, besonders in der Musik und in der Malerei zu echtem Ausdruck gekommen. Es blieb aber bisher ohne wesentlichen Einfluss auf die Gestaltung der menschlichen Gesellschaft, wenn man unter Gesellschaft nicht die Kultur einer kleinen reinen Oberschichte, sondern die Gemeinschaft aller Menschen versteht.“
Das äußerste Entsetzen hat der Künstler Joseph Beuys in sich getragen. Er war einer derjenigen Menschen nach 1945, der den Weg gegangen ist, in seinem Denken alle, die unserem Leben zugrunde liegenden Begriffe und deren Gültigkeit nach Auschwitz zu hinterfragen. Denken nach Auschwitz führte Beuys zu dem Ideenzusammenhang der „Sozialen Plastik“, als eine Aufgabe zur Umgestaltung aller Lebensfelder des Menschen, aller Menschen. Den Anfang zu finden und sich in schwieriger mühevoller Arbeit auf diesen Weg zu begeben, bringt Joseph Beuys bis zu seinem Tode 1986 in zahllosen Gesprächen, Diskussionen und Vorträgen zu Gehör. Die Aktionen und Werke unterstreichen seine Suche nach der Erweiterung der Begriffe. Denken nach Auschwitz heißt für Beuys auch die Erkenntnis, die als Diagnose das Ende aller Traditionen bezeichnet. Dietrich Bonhoeffer, 1945 in Flossenbürg ermordet, schreibt: „Wir sind stumme Zeugen böser Taten gewesen, wir sind mit vielen Wassern gewaschen, wir haben die Künste der Verstellung und der mehrdeutigen Rede gelernt, wir sind durch Erfahrung misstrauisch gegen die Menschen geworden und mussten ihnen die Wahrheit und das freie Wort oft schuldig bleiben, wir sind durch unerträgliche Konflikte mürbe oder vielleicht sogar zynisch geworden – sind wir noch brauchbar?“ Die Frage, sind wir noch brauchbar, ist jedem einzelnen Menschen vorgelegt. Auch wir sind Zeugen böser und schlimmer Taten. Ohne Schaden kann sich niemand auf Dauer der Verantwortung entziehen, sich selbst und den gesellschaftlichen Kontext, in dem er lebt zu prüfen und die ideologischen Schleier, von denen Adorno spricht, abzulegen. Es lässt sich in diesem Zusammenhang wohl besser verstehen, wenn Beuys zu folgendem Schluss findet: „Die Lage der Menschen ist Auschwitz und das Prinzip von Auschwitz findet seine Fortsetzung in unserem Verständnis von Wissenschaft und politischen Systemen, in der Übertragung von Verantwortung auf Gruppen von Spezialisten und in dem Schweigen von Intellektuellen und Künstlern. Ich befand mich in einem ständigen Kampf mit dieser Lage und ihren Wurzeln. Ich finde beispielsweise, dass wir jetzt Auschwitz in seinem gegenwärtigen Charakter erleiden. Jetzt sind die Körper äußerlich wohlerhalten (kosmetische Mumifizierung) und nicht vernichtet, aber andere Dinge werden ausgelöscht. Talent und Kreativität sind ausgemerzt: Eine Art geistiger Hinrichtung, die Entstehung eines Klimas der Angst, das vielleicht deshalb noch gefährlicher ist, weil es so raffiniert ist.“ (in „Joseph Beuys“,Caroline Tisdall, S.R. Guggenheimmuseum,New York). Fälschlicherweise wurde Beuys hier von verschiedenen Seiten eine Relativierung der Verbrechen von Auschwitz unterstellt. Stellen wir uns aber in die Linie der Gedanken von Wilhelm Reich, Adorno oder Leo Löwenthal, dann wird hier mit dem Potential des äußersten Entsetzens die Frage gestellt, wie wir nach und mit Auschwitz denken wollen. Wie es bestellt ist mit unserem Verständnis von Wissenschaft, Kreativität, Demokratie und Freiheit und es uns dabei bewusst machen, dass unsere Vorstellung von Zivilisation und die materialistische Denkweise durch Auschwitz radikal in Frage gestellt ist. Daran hat sich bis heute wenig geändert. Diese Denkweise hat den Menschen um zwei seiner ureigensten Dimensionen beraubt, um die Transzendenz und um die Gemeinschaft und ihn dadurch buchstäblich in die Einsamkeit des Nichts gestoßen. In seiner letzten bedeutenden Rede 1985 in den Münchner Kammerspielen „Sprechen über Deutschland“ stellt Beuys die Frage nach der Liebe. Nun ist damit nicht gemeint jene herunter gewirtschaftete Liebesbegriff aus der pornographischen Sudelecke sondern das äußerste Gegenbild an Kraft zu Auschwitz. „Die Welt ist voller Rätsel, für diese Rätsel aber ist der Mensch die Lösung. Der Mensch als Lösung für diese Rätsel, ich wage es zu sagen, ich muss es sagen, als Träger der Liebe.“ So Joseph Beuys in seiner Rede.
Dieses allerhöchste Bewusstsein des Menschen als Träger der Liebe und damit jener Energie, die ihn befähigen will und kann zur Arbeit an der klaffenden Wunde. So könnte man sagen, dass heute Freiheitswissenschaft, Kreativitätswissenschaft, zugleich bedeutet Liebeswissenschaft. Ohne die „noch im Rassistischen treibenden Umtriebe, schrecklichen Sünden, nicht zu beschreibenden schwarzen Male … auch nur einen Augenblick aus dem Blickfeld zu verlieren…“(Joseph Beuys, Sprechen über Deutschland) , nenne ich das Denken nach Auschwitz und komme noch einmal zurück zu Theodor W. Adorno, dass, wer nicht in jedem Augenblick das Potential des äußersten Entsetzens gegenwärtig hat, sein Denken genauso gut unterlassen könnte.

27. Januar 2015, Roland Wolf

Roland Wolf lebt und arbeitet als Künstler in Aschaffenburg. Er beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit dem „Erweiterten Kunstbegriff“. Kommentare zu diesem Text sind herzlich willkommen.